Mathias Énard: Tanz des Verrats
- Belletristik
Gewalt voll und Menschen leer
In seinem Roman „Tanz des Verrats“ verbindet Mathias Énard Geschichte und Gegenwart, kontrastiert Liebe und Verrat, reflektiert die Schönheit der Mathematik und das Grauen des Krieges. Der Roman umfasst zwei unverbundene und unvollendete Erzählstränge mit unterschiedlichsten Stilmitteln und Erzählformen.
Ein Strang erzählt derb und voller Gewalt, Schmutz und Schweiß von der Flucht eines Deserteurs und Kriegsverbrechers in einem nicht benannten Krieg in einer nicht näher bezeichneten Bergregion. Er ist auf sich allein gestellt, muss sich unter größten Gefahren durchschlagen, misstraut jedem. Er bleibt bereit zu töten. Die Sprache ist roh, die Gewalt ist unmittelbar, körperlich spürbar. Die nüchtern drastischen Darstellungen von Hunger, Verletzungen, Naturgewalten und der Todesangst einer fliehenden Frau, eines geschundenen und traumatisierten Kriegsopfers gehen widerwillig unter die Haut.
Der andere Strang erzählt geistreich, logisch und vordergründig empathisch, die Geschicke einer deutschen Familie. Aus der Perspektive der Tochter wird die Beziehungsgeschichte eines ostdeutschen Mathematikers und seiner westdeutschen Frau fragmentarisch und anekdotenhaft berichtet. Die friedliche Welt und Zeit auf einem sanft wogenden Ausflugsschiff im Berliner Grüngürtel, gechartert, um die Leistungen des verstorbenen Mathematikers zu würdigen, kontrastieren mit der scheinbar fernen, immer wieder hereinbrechenden Gewalt, in Erinnerungen an die Verfolgung der Eltern im Zweiten Weltkrieg, an das Leben im Untergrund, an Verrat, an das Überleben im KZ Buchenwald, als Nachrichtenmeldung des Terrorangriffs von 9/11 und als Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Mit „Tanz des Verrats“ hat der gebürtige Franzose Mathias Énard einen europäischen Roman über die Wunden des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Buch unserer Zeit vorgelegt. Es ist ein meisterhaftes Werk, das zeigt, was Literatur vermag: mit wenigen Pinselstrichen entwirft Énard ein komplexes, clever komponiertes, großformatiges Bild unserer Zivilisation, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Abgründe. Mit seinem Figurentableau bietet Énard keine Identifikation an; der Roman nimmt einen dennoch mit und stößt einen ab. Énard nutzt den Leser als Beobachter und ungefragt als Resonanzkörper, in dem sich der Roman entfaltet und in dem sich die beiden Erzählstränge voller Gegensätze schließlich zusammenfügen.
Wie so oft trifft der Titel der deutschen Übersetzung das Buch nicht annähernd so gut wie das Original: Déserter, französisch für etwas verlassen oder abtrünnig werden und desertieren. Und es steckt auch die Désert drin, die Wüste, die Leere, das Verlassensein, das Darben und die Härte. Gewalt droht an jedem Ort und zu jeder Zeit von innen wie von außen: Gewalt des Kriegs und der Flucht, Gewalt des Terrorismus und des Rassismus, Gewalt der Distanz, des sich Zurückziehens, der egoistisch vertanen Chance, des Selbstmords. Énard zeigt eindringlich, wie verletzlich unsere Zivilisation ist, wie schwer es ist, aus der Gewaltspirale auszubrechen, wie mühsam es ist, Menschlichkeit wiederzugewinnen. Aber vielleicht legt Énard mit dem unbändigen Lebenswillen des geschundenen Opfers und der tätigen Hilfe des Deserteurs letztlich doch eine Spur eines Auswegs.
Dr. Michael Danzer