Milan Kundera: Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas.

Die Idee der Zugehörigkeit zu Europa

Der Grund für die Veröffentlichung liegt auf der Hand: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist zugleich ein Angriff auf Europa und seine friedenstiftende und kulturelle Idee sowie dessen gemeinsame Wurzeln der Demokratie sowie des Christentums – und der Züricher Kampa Verlag veröffentlicht zwei Essays des im vergangenen Jahr verstorbenen Tschechen Milan Kundera: „Die Literatur und die kleinen Nationen“ sowie „Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas“.

Der eine entstand 1967 für den tschechoslowakischen Schriftstellerkongress, der andere 1983 im französischen Exil. Beide Texte führen vor Augen, dass sich bestimmte Fragen angesichts des gegenwärtigen Krieges erneut stellen. So eröffnet der zweite Essay seine Gedanken mit dem Einmarsch russischer Panzer in Ungarn 1956, als der Leiter der Ungarischen Presseagentur noch den Satz verbreitete: „Wir werden für Ungarn und für Europa sterben“. Kundera erinnert daran, welche integrative Kraft die Idee einer Zugehörigkeit zu Europa bei den Schriftstellern und Geisteswissenschaftlern seines Heimatlandes und dessen Nachbarn besaß und was diese „kreative Explosion“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert für die Länder bedeutete.

Dies für uns heute zu bedenken bleibt aktuell: Wer also auf die Staaten Mittel- und Osteuropas – Kundera hätte schlicht gesagt: Mitteleuropa – blickt, sollte dies nicht vergessen. Man muss dem Kampa Verlag dankbar sein, dass er dieses schmale Bändchen herausgegeben und mit lesenswerten Einführungen von Jacques Rupnik und Pierre Nora sowie guten Anmerkungen versehen hat.

 

Rainer Karlitschek

Milan Kundera: Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas. Aus dem Französischen von Uli Aumüller, Kampa Zürich 2023, 96 Seiten, ISBN 978-3-311-10120-8, 20,00 €.