Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling

Milena Jesenská? Die Jesenská – eine Freundin Kafkas? … und sonst?

Das überlieferte und stets unscharfe Bild dieser Frau muss neu gezeichnet werden: Wir sehen eine exakt beobachtende und mit klaren Formulierungen ihre Zeit beschreibende Frau vor uns.

Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919-1939, hg. von Alena Wagnerová, aus dem Tschechischen übersetzt von Kristina Kallert, Wallstein Verlag Göttingen 2020, 416 Seiten, ISBN 978-3-8353-3827-2, € 32,00.
 

Milena Jesenská
Zeitzeugin in Umbruchszeiten

 

Milena Jesenská?  Die Jesenská – eine Freundin Kafkas? … und sonst?
Das überlieferte und stets unscharfe Bild dieser Frau muss neu gezeichnet werden: Wir sehen eine exakt beobachtende und mit klaren Formulierungen ihre Zeit beschreibende Frau vor uns.

Alena Wagnerová aus Brünn/Brno, die 1990 die ‚Kinder‘ von 1945 mit Blick auf deren Eltern „rehabilitierte“, als tschechische Flucht-Emigrantin aus der kommunistischen Tschechoslowakei selbst  „Flüchtlingsschicksal“ durchleben musste und erst nach 1990 im neuen deutsch-tschechischen Dialog ihren angemessenen Platz fand, hat der bis heute so unbekannten Arbeit der Journalistin Milena Jesenská endlich die erforderliche Öffentlichkeit verschafft und einen Längsschnitt 20jähriger Arbeit erzeugt.

Jesenská, 1896 in wohlhabendem Prager Haus geboren, Gymnasiastin, Journalistin, später teilweise verarmt, sprachstarke, engagierte und stets sehr genaue Beobachterin sowie kluge Analystin ihrer Umgebung und Zeit – und 1944 im KZ Ravensbrück verstorben: eine ungewöhnliche Frau.

Aus den von Marie Jirasková zusammengetragenen 1.091 Artikeln, Feuilletons, Reportagen und 73 Übersetzungen (teils ganzer Bücher) hat Alena Wagnerová die besonders charakteristischen aus drei Schaffensperioden Jesenskás ausgewählt, mit einem übersichtlichen Vorwort und kurzem Hinweis-Nachwort versehen.

Mit Jesenská tritt uns in dem auf knappem Raum von 416 Seiten in drei Abschnitten gegliederte Sammlung mit 77 Texten die kritische und gleichzeitig empathische Zeitzeugin entgegen, die als Tschechin aber auch bei der Beobachtung des sudetendeutsch-tschechischen Verhältnisses eine ausgewogene Gerechtigkeits-Balance vertritt.

Ob es die Hungerkinder Wiens nach dem Ersten Weltkrieg sind oder die Nachkriegsgeneration ‒ „mitten in ihrer Entwicklung vom Krieg getroffen“ ‒ oder ein „Dr. Franz Kafka gestorben …, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag gelebt hat“ und dann später „Die Grenze“ 1925 im „Kurswagen Prag – Wien“ ‒ bis hin zur Grundsatzfrage des Mann-Frau-Verhältnisses, dass nämlich  „seelischer Einklang sich niemals einstellen wird, wo ein Mensch Besitz des anderen ist“.

Und dann die überaus scharfsinnige Beobachtung der Politik nach 1933 – das „3. Reich“, „in dem die Jugend dort erzogen wird – das ist die gewaltige Oper der Henlein-Bewegung“ ‒ „Weisungen und Befehle erteilt …“. Und die Flüchtlinge und Emigranten? „Emigration ist auch ein seelischer Zustand“, denn es „schleppen sich Menschen ohne Zuhause … von Grenze zu Grenze“. Am 29. September 1938 der Anfang der Katastrophe: „Einmal aber wird auch dieser von zwei Leuten am grünen Tisch unterzeichnete ‚ewige Frieden‘ ins Wanken geraten“. Dann 1939: „Werden wir wirklich je nebeneinander leben – Deutsche, Tschechen, Franzosen, Russen, Engländer ‒, ohne uns zu verletzen, ohne uns hassen zu müssen, ohne einander Unrecht anzutun? … wie wäre es schön das zu erleben!“ (geschrieben am 23. März 1939).

Vision 1939 – Wirklichkeit 2021?

 

Dr. Otfrid Pustejovsky