Peter Becher/Steffen Höhne/Jörg Krappmann/Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, J.B. Metzler Verlag Stuttgart 2017, 445 Seiten, ISBN 978-3-476-02579-1, € 99,99 (Hardcover), ISBN 978-3-476-05400-5, € 69,95
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Eine Neuvermessung der deutschen Literatur Böhmens
Gibt es eine spezifisch deutsche Literatur in Prag und in den böhmischen Ländern, und wenn ja, was macht diese Literatur etwa gegenüber der deutschen Literatur in Zürich, Wien, München oder Berlin aus? Diese Frage stellt sich insbesondere für die Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Zeit der noch sehr lockeren Staatengebilde, in der sich nationale Identität insbesondere im Bereich der Kunst und Kultur konstituierte. Der Ausspruch von der Nation der Dichter und Denker bezogen auf die Literatur und Philosophie um 1800 beispielsweise ist streng genommen vollkommen anachronistisch, weil der deutsche Idealismus maximal einen kulturellen Raum definierte. Von der Begründung einer deutschen Nation war man noch weit entfernt. Zugleich zeichnet sich in den Künsten der Wunsch nach Identität ab, die sogenannten „Nationalen Schulen“, was nicht selten auch Abgrenzung gegenüber dem anderen zur Folge hatte.
Das Wort „Abgrenzung“ bestimmte auch lange Zeit die Diskussion um die deutsche Literatur in Prag, insbesondere in Wechselwirkung mit der in den böhmischen und mährischen Regionen entstandenen Literatur. Im Vorwort zu dem beim renommierten literaturwissenschaftlichen Verlag Metzler erschienenen „Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder“ zitieren die Herausgeber die Positionen, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vorherrschten. Hier werden Grenzen gezogen zwischen dem sogenannten „Prager Kreis“ (Max Brod) und der sudetendeutschen Literatur. Die sudetendeutsche Literatur trage das Stigma der dreifachen Ghettoisierung, der nationalen, der religiösen und der sozialen.
Das neue Handbuch nimmt bewusst eine „Neuvermessung“ vor und verfolgt dabei einen komparatistischen Ansatz. Erst durch den wertfreien Vergleich der gesamten deutschsprachigen Literatur in Prag, Böhmen und Mähren werden Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie wechselseitige Einflussfaktoren deutlich. Folgerichtig wird das Handbuch eingeleitet mit einem theoretischen Abriss zu den Konzepten von Interkulturalität und der daraus resultierenden Suche nach einer Definition von kulturellen Räumen, seien sie nun städtisch oder regional. Ein ausführliches Großkapitel beschäftigt sich mit der Kulturgeschichte der Böhmischen Länder, dem Einfluss der jüdischen Kultur, dem wichtigen Phänomen der Mehr- bzw. Zweisprachigkeit, dem Verlagswesen und der Publizistik sowie der Geschichte der Ästhetik vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Der Überblick der literaturgeschichtlichen Epochen setzt ein mit dem Zeitalter der Aufklärung, in der sich erstmals so etwas wie eine literarische Öffentlichkeit formierte, und endet mit der Theresienstädter Literatur. Anna Knechtel und Jörg Krappmann weisen in ihrem mit „Nachklang“ überschriebenen Kapitel zu Recht auf die „Probleme der Terminologie und Zuordnung“ der Literatur nach 1945 hin. Schließlich kondensiert das Handbuch aus der literarischen Analyse einen Katalog an verbindenden Themen und Motiven – „Religionen“, „Prag als Topos“, „Erster Weltkrieg“ – sowie literarischen Textsorten, aus denen noch einmal die Gemeinsamkeiten einer spezifisch deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder abgeleitet werden können.
Das „Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder“ ist trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs und seiner differenzierten theoretischen Fundierung eine Lektüre für den interessierten Laien, der dabei möglicherweise auf die eine oder andere lohnenswerte Entdeckung stößt.
Dr. Christian Geltinger