Peter Becher: Unter dem Steinernen Meer.

Seit Jahrzehnten setzt sich der 1952 geborene Literaturhistoriker und Schriftsteller Peter Becher dafür ein, die unterschiedliche Sichtweise von Tschechen und heimatvertriebenen Sudetendeutschen auf die Geschehnisse der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts transparent zu machen. Dieses Anliegen prägt auch seinen jüngst veröffentlichten Roman „Unter dem Steinernen Meer“.

Mit der Vergangenheit der Vorfahren umgehen

Peter Becher entstammt der berühmten Karlsbader Becher-Dynastie. Sein Vater Walter Becher vertrat als Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe von 1968 bis 1982 eher nationalkonservative Positionen. Peter Becher ist dagegen Sozialdemokrat, er war lange Jahre Geschäftsführer und ist nun Vorsitzender des Adalbert-Stifter-Vereins in München.

Der Protagonist des Romans ist der um 1920 in Budweis geborene Arzt Karl Tomaschek, der seinen Lebensabend in der Steiermark verbracht hat und dort am 1. Mai 1991 auf der Terrasse eines Berggasthofs nach einem Schneetreiben erfroren aufgefunden worden ist.

Dieses Ereignis und die anschließende Beerdigungsfeier, geschildert aus der Sicht seiner beiden Söhne, von denen der Eine den Kontakt zu seinem dominanten und herrischen Vater vor Jahren abgebrochen hatte, bildet aber nur den Rahmen für das eigentliche Thema des Romans: die Wanderung in die eigene Vergangenheit, die Karl im Juli 1990 vom bayerisch-österreichisch-tschechischen Dreiländereck bis nach Budweis unternommen hat.

Auf dem Weg erinnert sich Tomaschek an seine Freundschaft mit dem Tschechen Hadrava, die mit dem gemeinsamen Musizieren der Väter mit tschechischen und jüdischen Kollegen ihren Anfang nahm. Mit der zunehmenden nationalen Konfrontation ab 1935 hatte sich diese Freundschaft in ein Kräftemessen zwischen deutschem Turnerbund und tschechischem Sokol gewandelt. Tomaschek und Hadrava entfremdeten sich einander zusehends, Besatzung, Krieg und Vertreibung taten ein Übriges.

In einem Wirtshaus treffen nun die Beiden 45 Jahre nach Kriegsende wieder aufeinander. Durch die Konfrontation der beiden vollkommen unterschiedlichen Blickwinkel auf die Geschehnisse damals gerät Tomascheks Weltbild aus den Fugen. Er hatte über Jahrzehnte Hadrava und die Tschechen für ihre Untaten am Ende des Krieges verurteilt und jeden Kontakt gemieden. Gleichzeitig  hatte er mit seinen ehemaligen Kameraden aus dem sudetendeutschen Turnerbund engen und vertrauten Umgang gepflegt, obwohl sie in der Protektorats-Zeit als NS-Schergen schwere Schuld gegenüber Juden und Tschechen auf sich geladen hatten. Die Erschütterung seines Freund-Feind-Denkens bringt Tomaschek dermaßen aus der Fassung, dass er – in Budweis angekommen – psychisch zusammenbricht. Davon erholt er sich bis zu seinem Tod zehn Monate später nicht mehr.

Da Karl Tomaschek früher nie darüber gesprochen hatte, sind die beiden Söhne erst während der Beerdigungsfeier mit dieser Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert und stehen – jeder für sich – vor der Herausforderung, damit umzugehen.

Peter Becher hat in seinem Roman unverkennbar autobiografische Elemente eingearbeitet. Es werden aber auch andere Nachkommen sudetendeutscher Eltern Einiges an Wesenszügen und Denkweisen ihrer eigenen Vorfahren wiedererkennen. Das macht sein Werk gerade für diese Zielgruppe besonders lesenswert.

Christoph Lippert

Peter Becher: Unter dem Steinernen Meer. Vitalis Verlag Prag 2022, 200 Seiten, ISBN 978-3-89919-646-7, 19,90 €.