Philipp Ther: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Suhrkamp Verlag Berlin 2017, 437 Seiten, ISBN 978-3-518-42776-7, € 26,00.
Stets die Außenseiter: Flüchtlinge und Vertriebene
Das musste bereits Franz Werfel auf seiner Flucht vor der Nazi-Verfolgung nach Amerika erkennen – aber mit aller wissenschaftlichen Deutlichkeit und gleichzeitig guter Lesbarkeit hat dies erst 2017 der in Wien lehrende deutsche Historiker Philipp Ther für eine breite Leserschaft formuliert.
Es gab bis 2017/18 kein zweites Buch, das mit solcher Genauigkeit und Nachweisen sowie Karten die Problematik von Vertreibungen, Flucht, Zwangsmigrationen im Allgemeinen und mit 17 biographischen Skizzen im Besonderen diese Thematik anschaulich darstellt.
Philipp Ther hat mit den „Außenseitern“ eine Flucht- und Vertreibungs-Gesamtgeschichte Europas, des Nahen und Mittleren Ostens seit dem 16. Jahrhundert vorgelegt, die mit ihrer Präzision und gleichzeitig Einfühlsamkeit (Empathie) die Tragödien von Flucht und Vertreibungen in lebendiger Sprache auch dem geschichtlich Unerfahrenen nahebringt.
In vier großen Teilen geht der Verfasser von den europabestimmenden „Religiösen Konflikten“ und ihren Folgen aus, schildert sodann die „Flucht vor dem Nationalismus“, stellt anschließend das „Zeitalter der Ideologien“ mit seinen politisch bedingten Massen-Fluchtbewegungen dar und widmet sich schließlich der vielfach befeuerten, geschürten Haltung der Zufluchtsländer und ihrer „Angst vor den Außenseitern“. Das gesamte Material und die schon nahezu uferlose Flut an Statistiken, Darstellungen, Aussagen, Untersuchungen packt Ther in Anmerkungen und fügt noch die wichtigste Literatur an. Auch ein gemischtes Personen-, Orts- und Sachregister ist angeführt. Aus dem „Dank“ des Verfassers geht die so umfangreich-komplexe Zusammenarbeit vieler Personen hervor, die zu dieser Veröffentlichung beigetragen haben.
Gerade aber die biographischen „Einschübe“ machen die Lektüre zu einer oft bedrückend-lebensnahen Erfahrung: so z.B. das „Bild“ des am griechischen Meeresstrand angeschwemmten toten 4-jährigen Alan Kurdi, die aus Spanien einst vertriebenen sephardischen Juden, das Schicksal der französischen Hugenotten, dokumentiert am Beispiel der Familie Robillard de Champagne, oder das so schillernd-komplexe Leben des „ewigen Flüchtlings“ Manès Sperber; ja auch die nach dem Krieg international hochgeschätzte Politologin Hannah Arendt. Ther bezieht die Person Erika Steinbach, langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), mit ein und sieht das Schicksal der jordanischen Königin Rania, die mit ihren Eltern aus dem Westjordanland nach Kuwait hatte flüchten müssen. Dann schlägt Ther den Bogen wieder in das revolutionäre Europa des 18./19. Jahrhunderts und führt als Beispiel den polnischen Freiheitshelden Tadeusz Kosciusko an, beleuchtet das sich bildende gesamtstaatliche Italien in der Person Giuseppe Mazzinis, behandelt auch Marie Korbelová aus Böhmen, die als US-Außenministerin Madeleine Albright weltbekannt wurde, oder den polnischen Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz; als prägendes Beispiel fügt Ther für die historische Tatsache vieltausendfacher Flucht aus der DDR den in voller Uniform der Volksarmee den Stacheldraht überspringenden Unteroffizier Conrad Schumann an – das Zufallsfoto ging seinerzeit um die Welt; 1998 beging Schumann in großer Depression Selbstmord.
Der Autor scheut nicht vor dem von zahlreichen Historiker-Kollegen nicht gewagten Schritt zurück, die nüchternen Fakten an wichtigen Stellen mit seiner eigenen, fundierten politischen Meinung wertend in den politisch-historischen Kontext einzuordnen und sich damit auch als überzeugter Demokrat deutlich zu legitimieren.
Ein auch für eine breite Leserschaft dringend empfehlenswertes Buch, das bald auch in anderen Sprachen erscheinen sollte.
Dr. Otfrid Pustejovsky