Piskorski, Jan M., Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Siedler Verlag 2013, 432 Seiten, ISBN 978-3-8275-0025-0, € 24,99.
Kontinent der Verjagten
„Die Europäer vergessen allzu leicht, dass die Erfahrung erzwungener Flucht in großem Umfang etwas ursprünglich Europäisches ist – und ebenso sind es die Kamine von Auschwitz und die Gulags im sibirischen Schnee.“ (S. 19)
Mit dieser Sicht und Bewertungsmaxime widmet der bekannte polnische Zeithistoriker Jan Piskorski ‚allen Entwurzelten‘ (S. 21) seine 432 Seiten umfassende, tiefgehende Untersuchung des das 20. Jahrhundert bestimmenden Geschehens: „Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“, so der Titel. Diese Gesamtdarstellung wird durch zahlreiche, teilweise aus dem persönlichen Familienleben stammende Fotos sehr bereichert. Weiter formuliert der Autor dann einen Gedanken, den einst im erzwungenen Exil bereits Franz Werfel in ‚Jakobowski und der Oberst‘ ähnlich ausgedrückt hatte:
„Alle, die dank des historischen Zufalls sicher in warmen Häusern wohnen, die Hunger, Angst um die Nächsten und ständige Flucht nicht kennen, sollten sich vergegenwärtigen, dass wir alle potentielle Flüchtlinge sind.“ (S. 22)
Piskorski schließt sein Buch symbolisch mit dem Schlüssel eines deutschen Vertriebenen auf und verschließt es ebenso – doch dann mit einem polnischen Schlüssel. In fünf großen Kapiteln setzt der Verfasser in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, zieht einen geradezu gewaltigen Bogen von den Balkankriegen vor 1914 über den Ersten Weltkrieg durch die sogenannte ‚Zwischenkriegszeit‘ in die 1930er Jahre und die Zeit nach 1945, um schließlich auch noch das (ehemalige) Jugoslawien nach 1995 mit zu behandeln. (Kapitel Vier umfasst allein mehr als 200 Seiten: „Gut und Böse liegen in der menschlichen Natur“, S. 321; so werden nur zu oft „sogar die Seelen der nächsten Generation, die Seelen ihrer Kinder“, vergiftet, S. 322.)
Jan Maria Piskorski hat den Mut, seine Familiengeschichte in die Welt zwischen den Diktaturen mit einzubeziehen – wo finden wir so etwas bei einem renommierten deutschen Zeithistoriker. Er spart nichts aus, belegt alle wichtigen Geschehnisse, Fakten und strittigen Probleme, übersieht selbst Details nicht und fügt einen, die internationalen Fachveröffentlichungen berücksichtigenden „Apparat“ mit 728 Anmerkungen hinzu. Das Schwergewicht von Piskorskis Arbeit liegt in etwa auf der Zeit zwischen 1932/33 und 1950. Es ist ein gesamteuropäisches Bild, doch sozusagen von unten her, aus der Sicht der Verfolgten, Verjagten, Diskriminierten, Heimatlosen zwischen 1860 und 2000. Der Verfasser erweitert diese Sicht noch durch Einbeziehung der Belletristik von Autoren, wie beispielsweise Remarque, Wiechert, Grass, Siegfried Lenz, und natürlich zahlreicher polnischer Werke.
Das Literaturverzeichnis ist ebenfalls international, und Namens- sowie Ortsverzeichnisse (deutsch und polnisch) vervollständigen dieses lesenswerte, wichtige Buch. Der Autor räumt ein: „Ich habe alle gelesen, nicht alle konnte ich in mein Buch einbauen, dessen Erzählung eigenen Gesetzen folgt, um die Aufmerksamkeit des Lesers wachzuhalten.“ (S. 343) Er schließt mit einem skeptischen, aber realistischen Gedanken: „Die Geschichte ist unvorhersehbar. Schicksalswendungen des Lebens sind nicht vorherzusehen ….“ (S. 337)
Dr. Otfrid Pustejovsky