Radka Denemarková: Stunden aus Blei.

Ost und West im Kaleidoskop.

Es gibt kein Leben außerhalb der Geschichte. Und es gibt keine Geschichten außerhalb des Lebens. Dieses Axiom steht wie ein imaginäres Motto über dem gesamten literarischen Schaffen von Radka Denemarková. Mit ihrem Roman „Peníze od Hitlera. Letní mozaika“ („Geld von Hitler“, deutscher Titel „Ein herrlicher Flecken Erde“), der von der Rückkehr einer jungen Frau aus dem KZ in ihre ehemals sudetendeutsche Heimat erzählt, lieferte sie einen entscheidenden Beitrag zum Täter-/Opfer-Diskurs in der sozialistischen Vergangenheit Tschechiens.

Die Ackermann-Gemeinde hatte die Autorin 2019 anlässlich des Bundestreffens in Landshut mit einer Lesung ihres Buches „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ („Příspěvek k dějinám radosti“) zu Gast (s. Heft 3-2019, Seite 16). Schon hier zeigt sich ein zentrales Leitmotiv ihrer surrealen poetischen Phantasie: Die Vögel als prophetische Mahner eines sich abzeichnenden Schicksals, die zwar eine Stimme haben und doch eine andere Sprache sprechen. Ein resigniertes

literarisches Selbstverständnis? Vermutlich nicht, denn das Schreiben scheint auch für Denemarková ein kathartischer Prozess zu sein. Zumindest haben ihre Geschichten immer auch mit ihr selbst zu tun.

So auch ihr neuer Roman „Stunden aus Blei“. Der China-kritische Roman ist eine Antwort auf das lebenslange Aufenthaltsverbot, das die chinesische Regierung über die Autorin verhängt hat, nachdem sie 2017 Kontakt zu Dissidenten hatte. Doch beweist Denemarková in ihrem neuen Buch einmal aufs Neue, dass einseitige Schuldzuweisungen und polarisierende Betrachtungsweisen ihre Sache nicht sind. Vielmehr finden sich in ihrem Roman immer wieder Querverweise zwischen der Geschichte eines kleinen osteuropäischen Satellitenstaates und dem Staatsapparat der mächtigen Volksrepublik. Gleichzeitig zeigt Denemarková die fatalen Widersprüchlichkeiten einer Zeit, in der der Kapitalismus als westlicher Exportschlager in einem kommunistischen Land dazu beiträgt, die eigenen Leute bei der Stange zu halten und den Westen von sich abhängig zu machen, der das natürlich auch mit sich machen lässt.

Wer jetzt eine etwas dröge literarische Geschichtsstunde erwartet hat, der liegt falsch, auch wenn man beim Griff nach Radka Denemarkovás neuem Roman die Assoziation eines Ziegelsteins nicht los wird, gemessen an den knapp 900 Seiten mit tiefschwarz gefasstem Buchschnitt, die zwischen zwei rote (!) Buchdeckel gepackt sind. Man könnte auch an das geistige Erbe eines kommunistischen Staatsoberhaupts denken, das sich hier, hermetisch abgeriegelt wie in einem Mausoleum, Respekt einflößend auf dem Büchertisch türmt, so dass man erst mal zögerlich ist, danach zu greifen. Doch der Eindruck verfliegt in Windeseile, sobald man die Hemmschwelle überwunden hat und in den Kosmos des Erzählens einer der wichtigsten tschechischen Autorinnen der Gegenwart eingetaucht ist. Denn dann erlebt man alles andere als „Stunden aus Blei“.

Radka Denemarková verdichtet in ihrem neuen Buch unterschiedliche Lebensgeschichten aus Ost und West, wie durch ein Kaleidoskop betrachtet. Neben der poetischen Sprache, erneut phantastisch übersetzt von Eva Profousová, leistet sich Denemarková auch hier den einen oder anderen Ausflug ins Surreale. Man denkt an E.T.A. Hoffmann, wenn der Kater Pommerantsch als Alter Ego der Hauptfigur, bezeichnenderweise einer Schriftstellerin, auftritt. Die Nähe der Autorin zu dieser Hauptfigur, die als Verfasserin eines Reiseberichts nach China reist, liegt nahe. In Peking tut sich ihr ein Moloch aus fremden und eigenen Geschichten der Vergangenheit auf. Und da sind wir wieder bei den Geschichten, die uns nicht los lassen. Radka Denemarková ist eine gelungen!

Dr. Christian Geltinger

Radka Denemarková: Stunden aus Blei. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, Hoffmann und Campe Hamburg 2022, 880 Seiten, ISBN 978-3-455-01044-2, 32,00 €.