Rainer Bendel: Hochschule und Priesterseminar Königstein. Ein Beitrag zur Vertriebenenseelsorge der katholischen Kirche (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Band 46), Böhlau Verlag Köln – Weimar – Wien 2014. 1025 Seiten, ISBN 978-3-412-21083-0, € 79,00.
Teil 1
Königsteiner Integrationen
Diese voluminöse Gesamtdarstellung einer Nachkriegs-Institution von 1946 bis 2000 – könnte eigentlich die Schaffenskraft eines Einzelnen überfordern, weil sie den Umfang eines „Handbuches“ einnimmt, und der Titel engt möglicherweise die oberflächliche Wahrnehmung sowohl eines nach eigenem Verständnis „kritischen“ (neutralen bis „antikatholischen“ ) Wissenschaftlers als auch eines wohlmeinend-wißbegierigen „Normal“-Lesers ein. Es handelt sich ja bei „Königstein“ nicht nur um eine Einrichtung engerer katholischer Großgruppenfürsorge im Nachkriegs-Westdeutschland, sondern um einen herausragenden und substantiellen Bestandteil der Integration der aus ihren Heimatgebieten geflüchteten, vertriebenen bzw. ausgesiedelten Deutschen und um den Neuaufbau einer zutiefst zerrissenen und gespaltenen Gesellschaft im Dreizonen-Gebiet und der neubegründeten Bundesrepublik Deutschland.
Damit spiegelt die Arbeit des Tübinger Zeit- und Kirchenhistorikers und derzeit besten Kenners dieser „Integrationsgeschichte“, Prof. Dr. phil. und Dr. theol. Rainer Bendel, eine wichtige, vom Mainstream deutscher Historiker im allgemeinen gemiedene Thematik wieder. Der Verfasser ordnet mit allen Mitteln der wissenschaftlichen Geschichtsmethodik dieses „Nischenthema“ in den allgemeinen Kontext der Zeitgeschichte (West-)Deutschlands ein. Bendel nimmt hier eine Sonderrolle ein: Weder historische Seminare noch Institute, nicht einmal die katholischen Kirchenhistoriker haben sich bis dato dieses komplexen Bereichs in diesem Umfang angenommen. Dies ist erstaunlich denn: „Königstein“ war ja „Identifikationsort (...), Erinnerungsort. Die Nennung des Namens weckt bei vielen Emotionen“ (S. 21): „Was der Kölner Dom für die rheinischen Katholiken sein sollte, wollte Königstein für die Vertriebenen sein (...), Vaterhaus (...), Zentrum der Betreuung“ (S. 28).
Zugegebenermaßen wird dieses Thema selbst von (noch lebenden) Angehörigen der ehemals rund 25% der westdeutscher Bevölkerung umfassenden Bevölkerungsgruppierung der „Flüchtlinge“ bzw. „Heimatvertriebenen“ im Jahre 2015 eher nur noch als ein Randbereich des sogenannten „heimatpolitischen“ Interesses wahrgenommen: Die „Laien“ interessieren die Abläufe und diversen Details kaum, und die Wissenschaft war und ist im Allgemeinen immer noch mit der allgemeinen Geschichte seit 1914 bzw. dem 1.9.1939 und unaufgearbeiteten Problemen der Bundesrepublik Deutschland (Personalgeschichte des BND, des Auswärtigen Amtes, der politischen Zusammenschlüsse der Vertriebenen usw.) beschäftigt und sieht daher die gesamte Entwicklung pauschal eher mit nuancierter negativer Voreingenommenheit – so z. B. der stets neu artikulierte Vorbehalt gegen die „Charta der Vertriebenen“ von 1950, die verschiedenen landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse, kirchlichen Sondergruppierungen und schließlich im 7. Jahrzehnt nach Kriegsende das Streitobjekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin.
Die Arbeit von Rainer Bendel ist so detailliert und umfassend angelegt, dass es notwendig ist, einen weiteren Besprechungsteil folgen zu lassen.
Dr. Otfrid Pustejovsky
Teil 2
Kaleidoskop einer Gesellschaft
Der nüchterne Titel dieses Werkes hat sicherlich manchen Leser (auch Wissenschaftler!) von einer genaueren Lektüre abgehalten, meinte er doch voreingenommen, wieder eine der bekannt-brav-frommen Darstellungen vor sich zu haben. Welch ein Irrtum!
Die öffentliche und wissenschaftliche Wahrnehmung des Schicksals der aus ihren Heimatgebieten geflüchteten bzw. vertriebenen Deutschen hat im vergangenen Jahrzehnt sprunghaft zugenommen und damit auch der geschärfte Blick auf vorgebliche „Sonderthemen“; Medien aller Art und wissenschaftliche Institute haben wirklich viel veröffentlicht, und einzelne Journalisten/Journalistinnen sowie Mediziner – wie zum Beispiel Helga Hirsch, Sabine Bode im Gefolge von Krockow, Radebold und andere – haben sich auch den „Kindern“ der „Kriegskinder“ zugewandt. Doch ein Bereich ist im Schatten geblieben: die Kirchen- und Religionsgeschichte der deutschen Vertriebenen als Gesamtproblem der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Denn die Frage nach „Königstein“, dem „Albertus-Magnus-Kolleg“, der „Kapellenwagen-Mission“, nach den Bischöfen Kaller, Kindermann („traditionell autoritärer Führungsstil“, S. 322) usw. erntet ein ziemliches Achselzucken.
Bendel hat in seiner Gesamtdarstellung keinen Bereich weggelassen, er hat selbst den kaum diskutierten Fragen der „Vorgeschichte“ in den Vertreibungsgebieten Aufmerksamkeit zugewandt: etwa der Frage kirchlicher Neugliederung nach dem Münchner Abkommen von 1938, den Beziehungen zum Vatikan, der Seelsorge zwischen 1939 und 1945, der „Vertriebenenseelsorge“ nach 1945 in West und Ost, dem Aufbau eines kirchenorientierten Höheren Schulwesens in Königstein, dem Aufbau einer mobilen Seelsorge in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Verbindung mit caritativer Unterstützung durch die „Kapellenwagen-Mission“, die erst durch die Aktivitäten des „Speckpaters“ Werenfried van Straaten in diesem Umfang möglich wurde. So wurde „Königstein“ sehr bald zu einem Gesamtkomplex von Gymnasium, Theologischer Hochschule, praktischer Priesterausbildung, Sozialtätigkeit, wissenschaftlicher Kirchengeschichte, tradiertem Wallfahrtswesen, gottesdienstlichen Begegnungen und schließlich im groß konzipierten „Haus der Begegnung“ mit den Kongressen „Kirche in Not“ und der damit zusammenhängenden Problematik von Kirchen und Menschen hinter dem „Eisernen Vorhang“ - doch ohne nachhaltige Integration in den Binnenstrukturen des deutschen Katholizismus.
Der Theologe und Zeitgeschichtler Bendel hat mit diesem so detailreich ausgebreiteten Kaleidoskop einer Gesellschaft im völligen Umbruch mit im tradierten Denken befangenen Bischöfen, mit Hunderten Geistlichen in überfordernden Situationen für zerstreute Gemeinden, ja selbst der Einbeziehung von Stellenproblemen, Besoldungsfragen eine auf gründlicher Quellenbasis (bis in die Privatunterlagen zahlreicher Akteure) erarbeitete Gesamtsicht geboten. Doch es ist ein in der Summe keineswegs erfreuliches Gesamtbild, das mancher bis heute gepflegten nostalgischen Beurteilung widerspricht, aber ein realistisches Kirchen-Polit-Geschehen vorstellt.
Bendels Materialfülle wird – das ist zu hoffen! - die Grundlage für zahlreiche weitere Detailstudien bzw. Doktorarbeiten oder thematische Monographien bilden und damit sicherlich in manchen Bereichen Vorstellungen der deutschen kirchlichen Nachkriegsentwicklung grundlegend korrigieren.
Das endgültige Aus im Jahre 2000 markiert auch das in mehr als 60 Jahren erkennbar gewordene Desinteresse der Vertriebenen im allgemeinen an der gruppenspezifischen Religions- und Kirchengeschichte!
Dr. Otfrid Pustejovsky