Reiner Stach: Kafka, Die frühen Jahre

Nach 18 Jahren Arbeit hat Reiner Stach seine dreibändige, rund 2000 Seiten umfassende Kafka-Biografie abgeschlossen. Von vielen Seiten kommt größtes Lob: Ein Meilenstein der deutschen Literaturgeschichte, das Unmögliche (dieses Wort gehört zu den wichtigsten Wörtern in Kafkas Sprache) sei möglich geworden.

Reiner Stach: Kafka, Die frühen Jahre, Verlag S. Fischer Frankfurt 2014. ISBN 978-3-10-075130-0, 608 Seiten, 64 Ab-bildungen, € 34,00.

 

Kafka - neu entdeckt

Nach 18 Jahren Arbeit hat Reiner Stach seine dreibändige, rund 2000 Seiten umfassende Kafka-Biografie abgeschlossen. Von vielen Seiten kommt größtes Lob: Ein Meilenstein der deutschen Literaturgeschichte, das Unmögliche (dieses Wort gehört zu den wichtigsten Wörtern in Kafkas Sprache) sei möglich geworden. Imre Kertész lobt das Werk, wie man dem Schutzumschlag des nun vorgelegten Bandes „Kafka. Die frühen Jahre“ entnehmen kann: „Das Beste, was in diesem Genre hervorgebracht werden kann. Selbst ein Roman." Gleichwohl hat diese Biografie nichts Fiktionales, jeder Textteil ist irgendwie belegt.

Die Schwierigkeit, die „frühen Jahre“ zu beschreiben, liegt nicht nur im Rätsel, das Kafka der literarischen Welt selbst aufgibt, sondern im Fehlen von Quellen: keine Schulhefte, keine Zeugnisse, keine Briefe des Kindes oder Jünglings liegen vor. Wie konnte ein Prager jüdischer Junge auf eine solche Höhe gelangen: ein Jahrhundertautor zu werden? Stach befragte Schulfreunde, literarische Gefährten, griff zurück auf Anekdoten über Prager Lehrer und Professoren. Stachs Biografie fand mit dem letzten, in der Chronologie gleichwohl ersten Band „Die frühen Jahre“ ihren Abschluss. Der chronologisch zweite Band „Jahre des Entscheidung“ von 1910 bis 1914 zeigt Kafka als Helden der Entscheidung, sich von seiner Familie, vom Vater, zu befreien, womit der Sohn plötzlich zum Schriftsteller geboren wurde. Die „Jahre der Erkenntnis“ von 1914 bis 1924 zeigen das Scheitern Kafkas: Er kann nicht aus dem Büro fliehen, nicht in den Krieg einrücken, darf nicht als Schriftsteller leben, unmöglich, das Glück mit einer Frau zu finden, die Tuberkulose ist unheilbar, unaufhaltsam das Ende.

In „Die frühen Jahre“ wird chronologisch und gleichzeitig themenbezogen Kafkas Lebensumfeld Stück für Stück ausgeleuchtet, ebenso werden die Einflüsse und Bedingungen, unter denen er von Kindheit an aufwuchs, aufgezeichnet. Stach lässt historische Szenen sprechen, es treten Personen, dramatische Ereignisse auf: Das Schicksal der Stadt Prag, der Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen, die Probleme mit den zwei Sprachen, der Antisemitismus, die Geschichte Böhmens, das untergehende Habsburgerreich. Wir finden aufschlussreiche Passagen zu Kafkas Schwimmleidenschaft. Derjenige, der sich mit Prag, mit Böhmen, auch mit Europa verbunden weiß, fühlt sich beschenkt. Er lernt Prag auch über das Literarische hinaus mit neuem Blick sehen.

Reiner Stach stellte direkt nach ihrem Erscheinen „Die frühen Jahre“ in Darmstadt vor. Ohne Eitelkeit erzählte er von seiner Arbeit. Besonders die Frauenfiguren hätten es Kafka angetan. „Sie stellen für Kafka das Leben dar, er selbst fühlt sich nur als Zaungast.“

Die literarische Geburt Kafkas habe sich vom 22. auf den 23. September 1912 ereignet. In atemberaubendem Schaffen habe er die Erzählung „Das Urteil“ geschrieben. Dieses große Rauschen vernimmt man kaum, wenn man Stach erlebt, der mit großer Ruhe vorträgt. Er habe einige Jahre als Wissenschaftslektor bei Fischer gearbeitet. Bei seinen Recherchen lege er viel Wert auf Genauigkeit. Von der schöpferischen, einfühligen, literarischen Seite des eigenen Schreibens macht er wenig Aufhebens. Er berichtet von den Schwierigkeiten, Einblicke in die umkämpften Brod-Quellen (Kafkas Nachlass) zu erhalten, in denen sich auch Verweise auf Unpubliziertes befänden.

Gerold Schmiedbach