Böhmische Weihnacht. Aus dem Tschechischen übertragen von Dr. Walter Rzepka, Rogeon-Verlag Esslingen 2016, 264 Seiten, ISBN 978-3-94318-628-4, € 15,20.
Literarische Weihnachtslandschaft
Wissen Sie, was es mit dem Goldenen Schweinchen auf sich hat? Haben Sie - sofern Sie eine haben - mal in Ihrer guten Stube in einer großen Schüssel Nussschalenschiffchen mit Kerzenlicht übers Wasser geschickt? Und dabei innerlich gebangt, ob sie denn auch am anderen Ufer heil ankommen? Oder mal über das Eis getschundert? Nein? Dann ist es aber höchste Zeit, darüber etwas mehr zu erfahren! Dann ist es ein Grund mehr, sich in die gute alte Welt, in der die Bräuche Gang und Gäbe waren, wieder einmal zu begeben. Ob neu für Sie oder wohlbekannt: Die alte böhmische Weihnachtswelt wird sie verzaubern und die neuere tschechische wird Ihnen Einblicke gewähren, die Sie vielleicht die Denkweise im heutigen Mitteleuropa etwas mehr verstehen lässt.
Passend zu Beginn der Adventszeit kommt im kleinen ROGEON-Verlag ein Buch heraus, das mehr ist als ein weiterer Sammelband netter Weihnachtsgeschichten; es ist auch mehr, als eine Neu- oder Wiederentdeckungsreise in die böhmischen Dörfer: Es ist ein genussvoller Ausflug in die Welt der tschechischen Literatur. Hinter diesem beachtenswerten Werk steht kein Literat und Übersetzer von Beruf, sondern ein promovierter Jurist: Walter Rzepka, in der Ackermann-Gemeinde kein Unbekannter, wurde Anfang der 30er Jahre im mährischen Teil Schlesiens geboren und setzte sich schon als Student für die Versöhnung von Deutschen und Tschechen ein. Diesem Bestreben blieb er ein ganzes Leben treu und vertiefte sich dadurch auch immer mehr in die Denkweise seiner tschechischen Landesgenossen. Den Einblick gewann er nicht zuletzt durch die tschechische Literatur: Es wurde ihm zunehmend bewusst, dass für gute Nachbarschaft auch Sympathien füreinander erforderlich sind. Und diese Sympathie, so Rzepka, kann erwachsen, wenn man die Seele des Nachbarvolkes kennenlernt, die sich gerade auch in seiner Literatur widerspiegelt. Durch seine ausgewogene Auswahl der Texte und ihre feinfühlige Übertragung ins Deutsche ist Walter Rzepka ein Buch gelungen, das wohl bei jedem diesen Eindruck hinterlässt, der Offenheit und Interesse mitbringt.
Werke verschiedener Autoren, von den namhaftesten Vertretern des tschechischen literarischen Kanons wie Božena Němcová und Karel Čapek, über Schriftsteller, die zum Grundwissen jedes tschechischen Schulkindes gehören, wie der schreibende Priester und bekennende Chodenländler Jindřich Šimon Baar, über Persönlichkeiten, die wegen der beiden Diktaturen im 20. Jh. die Hälfte des Lebens im Exil verbringen mussten (Ludvík Aškenazy), über den Klassiker der tschechischen Kinderliteratur Václav Čtvrtek bis hin zu zeitgenössischen tschechischen Schriftstellern wie Jana Červenková und Autoren, deren Wirkungsbereich sich hauptsächlich in theologisch-philosophischen Gefilden befand wie bei dem Benediktinermönch Jan z Holešova/Johannes von Holleschau, sind in dem Buch vertreten.
Nur einige Autoren kann ich hier nennen. Und tue den anderen dadurch Unrecht, denn sie sind nicht minder bedeutsam und prägend für die tschechische, rechte böhmische Literaturgeschichte. Nur so viel: Rzepkas Mischung ist gelungen. Auch, was die Gattungsarten betrifft: romantische Erzählung wechselt nüchterner Blick eines Realisten ab, einem Kindermärchen, an dem Erwachsene genauso viel Freude haben werden, steht ein Bericht aus entzauberter Welt kommunistischen Gefängnissen gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist das Buch auch ein Lehrstück der letzten hundert Jahre der tschechischen Ideengeschichte.
Die Texte sind sachkönnerisch und zugleich einfühlsam ins Deutsche übertragen; der Übersetzer ist mit tschechischen Befindlichkeiten wohlbetraut und bleibt dabei demütig: er stülpt seinen Übertragungen nicht seine Denkart über; eine seltene, wahrhaft heilbringende Mischung.
Dr. Kateřina Kovačková