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Silja Schultheis/Tomáš Jelínek (Red.): Als wäre das alles gestern geschehen

Diese deutsch-tschechische Dokumentation enthüllt bereits im Titel, dass auch 70 und mehr Jahre nach furchtbaren Verfolgungs- und Kriegsjahren das Geschehen weiterwirkt.

Silja Schultheis/Tomáš Jelínek (Red.): Als wäre das alles gestern geschehen. Eine Hommage an die Opfer und Überlebenden des NS-Regimes mit einem Essay von Radka Denemarková und Porträts von Karel Cudlín, übersetzt von Kathrin Janka und Barbora Hudcová, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale)/Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds Prag 2021, 168 Seiten, ISBN (DE): 978-3-96311-635-3, € 20,00 / (CZ): 978-80-908291-1-4, CZK 260,00.

Zusammen mit 22 Lebensgeschichten und zahlreichen Zitaten hat der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds einen grundlegenden historisch-politisch-ethischen Essay der Literatin und kritischen Zeitbeobachterin Radka Denemarková mit Porträt-Fotografien von Karel Cudlín (der Václav Havel nach 1991 fotografisch begleitet hat) in zweisprachiger Fassung vorgelegt und damit eine weitere Wissens-„Lücke“ über das Leben in den Böhmischen Ländern zwischen 1938-1945 geschlossen.

Es ist ein ungewöhnlicher Zeitzeugenbericht entstanden. Doch erst der Essay, das „unendliche Gespräch“ gibt den Randglossen der einstigen Opfer und den Porträtfotos den Rahmen für ein Erinnern und Bewerten.

Radka Denemarková setzt den Maßstab für ihre grundlegenden Betrachtungen im Eingang: „Das Trauma endet nicht mit dem Verlassen des Konzentrationslagers. Es endet nicht mit dem Ende des Krieges. Es endet nicht mit dem Tod des letzten Überlebenden. Das Trauma ist die Atemluft Europas“. Daher fordert sie geradezu kategorisch „die eigene Geschichte nicht zu verschweigen“ und somit „Zeugnis abzulegen“, denn die Traumata der Zeitzeugen „sind unsere Traumata“ und offenbaren so „die Mentalität einer Gesellschaft“ und die Schaffung von Stereotypen „bei nationalistischen Politikern“, „aber nur unsere rationale, auf Bürokratie und Leistung ausgerichtete Zeit hat den Holocaust ermöglicht“. Somit erhebt sich auch die Frage: „Wie konnte es dazu kommen, dass die Moral derart schwieg, schlief? Wie ist es möglich, dass das Massenmorden in ganz Europa von einer desinteressierten Totenstille begleitet wurde?“ Ihre Antwort: „...nur mit dem industriellen und modernen Fabriksystem“. Und so folgert sie daraufhin: „Der Holocaust betrifft uns alle“.

Die Autorin hält dabei nicht nur uns Deutschen einen Spiegel vor. „Deutschland war vom Nationalsozialismus durchdrungen. Aber der Grund dafür lässt sich nicht auf deutsches Territorium einschränken“. Und so könne man „den Holocaust (…) auch nicht auf eine Fortsetzung des Antisemitismus mit anderen Mitteln reduzieren, auf einen Extremfall der Ghettos, Pogrome und Judenverfolgungen im christlichen Europa“. In Bezug auf die Tschechoslowakei nach 1945 schreibt die Autorin: „Viele Jahrzehnte lang wurde praktisch jeder deutsche oder jüdische Beitrag zur Geschichte der tschechischen Kultur und Wissenschaft geleugnet“. „Der Stalinismus wucherte bei uns ohne Rücksicht darauf, was in der UdSSR los war“. Die Sprache als entscheidendes Mittel der Verständigung reichte und reicht nicht mehr aus: Sie „belügt sich selbst“: Judenvernichtung wurde zur „Gesundung“, Gaskammern zu „Waschräumen“, kommunistische Repression zu „sozialistischer Moral“.

Und so beschließt die tschechische Autorin ihre kritischen Gedanken mit einer weit ausholenden Feststellung: „Wir haben die Mentalität einer bürokratischen und technokratischen Gesellschaft nicht abgelegt. (...) Von dem, was uns unangenehm ist, wenden wir die Augen ab“. Doch: „Die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens sind universell“, und so ist „jede Erinnerung, jede Geschichte, jedes Dokument ein Mosaiksteinchen“ im Leben jedes Menschen und der Nationen.

Angesichts des von Russland erfolgten militärischen Überfalls auf die Ukraine mit immer mehr Opfern und Zerstörungen und einer geradezu unerhörten Propagandawelle seitens der herrschenden Gruppe um den ehemaligen KGB-Offizier und heutigen Staatspräsidenten Putin sind die Gedanken Radka Denemarkovás wie ein Menetekel für die gesamte Welt.

Dr. Otfrid Pustejovsky