Tomáš Radil: Zufall, starker Lebenswille und Solidarität

Tomáš Radil, tschechischer Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychologe fand erst 60 Jahre nach Kriegsende die Kraft, das Erlebte in Auschwitz niederzuschreiben und 2009 zu veröffentlichen.

Tomáš Radil: Ein bißchen Leben vor diesem Sterben, aus dem Tschechischen übersetzt von Hubert Laitko, Arco Verlag Wuppertal 2020, 696 Seiten, ISBN 978-3-938375-68-6, € 32,00.

 

Tomáš Radil, tschechischer Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychologe fand erst 60 Jahre nach Kriegsende die Kraft, das Erlebte in Auschwitz niederzuschreiben und 2009 zu veröffentlichen. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds ermöglichte 2020 auch eine deutsche Übersetzung.

Als Zeitzeuge der Archivs „Memory of nations“ schildert er die erst späte Deportation der ungarischen Juden ab Juni 1944 in seiner Heimatstadt, die von den mit Deutschland verbündeten Ungarn mit gleicher Systematik erledigt wurde. Die jüdischen Gemeinden sind derzeit gut informiert, was mit den Juden in anderen Ländern geschehen ist. Radils Großvater, der Vorsteher einer jüdischen Gemeinde, sichert durch vorbereitende Aktionen die Lebensbedingungen seiner Gemeindemitglieder bis zur Deportation. In der Familie bekommt der damals Dreizehnjährige durch offenen Umgang mit der politischen Situation und dem, was zu erwarten sei, eine Lektion für ein schnelles Erwachsenwerden. Große Hoffnungen setzen die ungarischen Juden in die katholische Kirche. Geflüchtete Häftlinge aus Auschwitz haben dem Vatikan von der Vernichtung berichtet, zudem gibt es Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende.

Bis in die intimsten Bereiche beschreibt Radil den Transport, das Leben und die Menschen in Birkenau. Aber es sind nicht nur die Erinnerungen eines Jugendlichen, sondern reflektierte Beschreibungen eines Psychologen zu Mechanismen und zu menschlichem Verhalten unter Extrembedingungen.

Ein aufgeweckter Junge solidarisiert sich mit anderen Jungen und gemeinsam realisieren sie Strategien zum Überleben, suchen Kontakte zu vorbildlichen Erwachsenen, stützen sich und geben einander moralischen Halt. Die meisten überleben die Selektionen nicht. Radil erlebt die Befreiung zufällig auf einer Krankenstation.

Die spätere Berufswahl war damit wohl schon vorprogrammiert. Zeitlebens beschäftigte er sich mit dem Holocaust und forschte über die Entstehung von Hass. Neunzigjährig verstarb Radil in diesem Jahr in Prag.

Adriana Insel