Věra Nosková: Wir nehmen es, wie’s kommt. Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch, Bayerwald Buchverlag Grafenwiesen und Buchverlag Klika Prag 2016, nach dem tschechischen Original von 2005, 336 Seiten, ISBN 978-80-87373-72-9, € 24,95.
Über den Umgang mit eigenen biographischen Verletzungen
Stellvertretend für eine Generation, die im Westen als die „väterlose“ bezeichnet wurde, macht sich Pavla, die Protagonistin in Věra Noskovás Roman mit dem Titel „Wir nehmen es, wie’s kommt“ auf die Suche nach ihrem Vater. Anders als viele Kinder in ihrem Alter hat sie ihren Vater nicht durch den Krieg verloren, sondern durch die frühe Trennung ihrer Eltern. Von diesem Zeitpunkt an ist Pavla eine Entwurzelte, die der Mutter auf der Suche nach einem neuen Mann bald lästig wird, überwiegend durch ihre Wiener Großeltern geprägt wird und ihren Vater zunehmend als „Erzeuger“ wahrnimmt ganz im Sinne von Richard Dawkins These vom „Egoistischen Gen“: „Dawkins behauptet, dass die Gene im Pflanzen- und Tierreich, also auch beim Menschen, den Drang haben, sich zu replizieren, was für sie bedeutet, sich einen neuen Körper zu schaffen, der zu weiterer Reproduktion fähig ist, und so weiter bis zum jüngsten Tag. (…) Die Lebensgeschichte meines sagenumwobenen Vaters hätte Mister Dawkins bestätigt, dass sich gelegentlich auch in unserer Kultur ein Mann findet, der auf den ersten Blick ein enormes Bedürfnis hat, seine Gene weiterzugeben.“
In vielerlei Hinsicht ist die Enkelin von sogenannten „Wiener Tschechen“ von Kindheit an eine Fremde in ihrem eigenen Land. In der Schule wird sie angehalten, Parolen wie „Voran auf Stalins Weg!“ zu skandieren, zu Hause bei den Großeltern verschafft sich der Unmut über die verdrängten Wurzeln Luft: „Wir essen Fleischlaberl, Schnitzerl und Erdäpfel und sagen Grisgott, und wenn jemand dünn ist, dann nennen wir ihn Zweifingerdick. Die Ausdrücke Böhmaken oder Schalenfresser bezeichnen die Wiener Tschechen, die Malocher aus den Ziegeleien und Fabriken und von den Baustellen, die Kartoffelschalen gefuttert haben. Die Krönung von Großmutters bizarren Geschichten über Saft- und Kraftlose, überm aufgetakelte Trullas und Krawallschachteln ist die Redewendung: ‚Am Arsch warns mit ihrem Amaleins.‘“
Eines Tages nimmt Pavla ihr Schicksal selbst in die Hand, bricht aus dem Mief ihrer südböhmischen Kleinstadt aus und macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen Identität, die sie nicht zuletzt in ihrer eigenen literarischen Begabung findet. Auf der Suche nach ihrem Vater, dessen Abwesenheit insbesondere in ihren Tagebüchern zu einer zunehmenden Überhöhung führt, muss sie nach einigen Umwegen an ihr Ziel in der ostslowakische Provinz gelangt erfahren, dass sie ihren Tati nie mehr wieder sehen wird: „Die Erinnerungen an die Träumereien über die Seelenverwandtschaft, über die heimliche Vaterliebe müssen ausgebrannt werden, wie eine Wunde, wie eine Warze. Abgefackelt wie ein Feldrain im Frühling.“ Der Coming-of-Age-Roman der 1947 in Hroznětin geborenen Věra Nosková erzählt die Geschichte eines höchst ambivalenten Ablösungsprozess von Kindern von ihren Eltern, der vor dem Hintergrund des Milieus, in dem die Protagonistin aufwächst, umso mehr die Frage nach dem Umgang mit der Aussöhnung mit persönlichen biografischen Verletzungen aufwirft, auf die die Antwort für die Zukunft nur sein kann: „Wir nehmen es, wie’s kommt.“
Dr. Christian Geltinger