Tiefgang und Weitblick

Der Geistliche Beirat der Sdružení Ackermann-Gemeinde Dr. Martin Leitgöb formuliert Gedanken zum Budweiser Motto "GEMEINSAM GEFORDERT - GEMEINSAM AKTIV. JAKO KŘESŤANÉ I EVROPANÉ, JAKO ČEŠI I NĚMCI":

Siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ebenso siebzig Jahre nach dem Beginn der Vertreibung der deutschen Volksgruppe aus Böhmen, Mähren und Schlesien und ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wird das im August stattfindende Bundestreffen der Ackermann-Gemeinde in Budweis/České Budějovice als Motto haben: „gemeinsam gefordert - gemeinsam aktiv. Jako křesťané i Evropané, jako Češi i Němci“. An diesem Motto fällt zunächst einmal auf, dass es einen deutschsprachigen und einen tschechischsprachigen Teil hat, wobei der tschechischsprachige Teil nicht die Übersetzung des deutschsprachigen ist, sondern eine inhaltliche Weiterführung, Präzisierung und Vertiefung dessen, was vorher mit plakativen Worten in deutscher Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Das Motto möchte in seinen beiden Teilen sagen, dass wir als Christen und als Europäer sowie als Tschechen und als Deutsche gemeinsam gefordert und gemeinsam aktiv sind bzw. sein wollen. Und in seiner Zweisprachigkeit ist es ein schönes Symbol für das zwischen Deutschland und Tschechien bereits Erreichte.

Selbstredend sind mit dem Motto alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bundestreffens in Budweis angesprochen. Sie treffen einander als Christen, das heißt im christlichen Geist, wozu unumstößlich der Wert der Versöhnung gehört, eingebettet in die noch fundamentaleren christlichen Werte von Liebe und Wahrheit. Christen sind zwar ihrer göttlichen Berufung nach nicht von dieser Welt, sie leben aber in dieser Welt, und sie haben einen expliziten Auftrag für diese Welt. Das vor fünfzig Jahren zu Ende gegangene Zweite Vatikanische Konzil hat dies in besonderer Weise zu Bewusstsein gebracht. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bundestreffens findet dieser christliche Welt-Auftrag vorrangig in ihrer Beheimatung auf dem europäischen Kontinent seine Konkretisierung. Für Europa sollen und wollen sie sich engagieren, über Nations- und Sprachgrenzen hinweg, mehr noch: über die Grenzen, die manchmal Menschen um sich herum errichten.

Worin für Christen, denen Europa am Herzen liegt, in der heutigen Zeit die wesentlichen Herausforderungen bestehen, das machte am 25. November des letzten Jahres Papst Franziskus in seinen wegweisenden Ansprachen vor dem Europaparlament und vor dem Europarat in Straßburg deutlich. Er klagte darin den Egoismus, die Entsolidarisierung und die Gleichgültigkeit in der europäischen Gesellschaft genauso an wie den Umstand, dass noch immer zu viele Menschen einfach als Objekte behandelt würden, nicht aber als Personen mit einer unverfügbaren Würde und fähig, sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen. Der Papst rückte auch besonders hilfsbedürftige gesellschaftliche Gruppen in den Blickpunkt: die Armen auf den Straßen, die Jugendlichen ohne Ausbildung und Arbeit, die Alten in ihrer Einsamkeit, die Migranten, welche Aufnahme und Hilfe brauchen. Es dürfe sich in Europa nicht alles um die Wirtschaft drehen, sondern es müsste eine neue Konzentration auf grundlegende Werte einsetzen. Leidenschaftlich pries der Papst in diesem Zusammenhang den Wert der Familie genauso wie des Gemeinwohls und der Demokratie.

Die paar Tage in Budweis werden gewiss zu kurz sein, um sich mit all diesen Herausforderungen tiefgründig zu beschäftigen. Sie werden aber die Möglichkeit bieten, Impulse auszusenden und zu empfangen, neuen Mut und neue Freude für das persönliche wie gemeinschaftliche Engagement zu gewinnen, wichtige Haltungen wie das Füreinander-offen-sein oder das Aufeinander-hören einzuüben und nicht zuletzt die Rückbindung im christlichen Glauben zu vertiefen. Treffen dieser Art tragen dazu bei, dass sich in unserer europäischen und namentlich in der mitteleuropäischen Gesellschaft jener Humus vermehrt, in dem Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Friede und Solidarität wachsen und reifen können, um Früchte zum Wohle all jener zu bringen, die auf diesem Kontinent leben bzw. auf ihm Zuflucht suchen. Jahrzehntelang hat die Ackermann-Gemeinde an dieser Humusbildung mitgewirkt, und sie soll es auch in Zukunft tun. Dazu wird es notwendig sein, dass sie nicht allzu selbstgefällig das Erreichte in den Mittelpunkt stellt und sich nicht in Gewohnheiten einzementiert. Am wenigsten darf sie sich administrativ und institutionell mit sich selbst beschäftigen. Vielmehr muss sie sich immer wieder neu auf den Weg begeben, neue Ziele suchen und ganz konkrete größere oder kleinere Schritte setzen.

Das erste und das dritte Wort des Mottos ist besonders wichtig: „gemeinsam“. Friedrich Hölderlin, ein Dichter von wahrhaft europäischem Format, hat einmal geschrieben: „Viel hat ein Mensch erfahren … seit ein Gespräch wir sind“. Bemerkenswerterweise sind es Worte aus seinem „Friedensgedicht“. Gefordert und aktiv sein - das kann man zwar auch alleine, aber oftmals kreist man dann nur um sich selbst, oder es ergibt sich bei allem Vollgas nur Leerlauf. Wesentlich mehr ist zu erfahren und zu bewirken, wenn man sich bewusst und wirklich in das „Wir“ einer Gemeinschaft begibt. Dann stellen sich Tiefgang und Weitblick zugleich ein. Dann lassen sich Herausforderungen viel mutiger angehen. Dann sind die Hoffnungen viel kühner und die Enttäuschungen leichter zu ertragen. Außerdem entfalten jede Idee und jede Tat erst im Wir einer Gemeinschaft ihre besondere Strahlkraft, die sich dann auch auf andere auswirken kann, also wie ein Stein im Wasser Kreise zieht.

Ich wünsche dem Bundestreffen der Ackermann-Gemeinde, dass auf ihm nicht nur Gespräche geführt werden, sondern dass es im Hölderlinschen Sinne zu einem großen Gespräch wird, von dem alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann wieder bereichert und gestärkt in ihr konkretes Engagement auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zurückkehren."

P. Dr. Martin Leitgöb,
Geistlicher Beirat der Sdružení Ackermann-Gemeinde