Brünner Symposium 2021
Gespaltene Gesellschaften – gespaltenes Europa. Worüber und warum wir keine gemeinsame Sprache finden können?
Am 26. und 27. März 2021 fand online das XXIX. Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ statt. Das Thema lautete:
Gespaltene Gesellschaften – gespaltenes Europa
Worüber und warum wir keine gemeinsame Sprache finden können
Die Beiträge und Diskussionen sind auf YouTube verfügbar (s.u.).
Programm des „Dialog 2021“: Programm (deutsch), Program (česky)
Das XXIX. Brünner Symposium fan statt unter der Schirmherrschaft von Dr. Markéta Vaňková, Primatorin der Stadt Brünn, und Jan Grolich, Hauptmann des Südmährischen Kreises.
Organisatoren:
Wir danken herzlich unseren Partnern und Förderern:
Videos der Konferenzbeiträge
Eröffnung
Vorsichtiger Optimismus, Spaltungen in Europa zu überwinden
Im vorigen Jahr fiel es ersatzlos aus, heuer konnte das inzwischen 29. Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ zumindest an zwei Tagen online stattfinden, organisiert von der Ackermann-Gemeinde und der Bernard-Bolzano-Gesellschaft. Weit über 100 Bildschirme in Deutschland, Tschechien und weiteren Ländern waren jeweils am 26. und 27. März zugeschaltet, als es bei Vorträgen und Diskussionen um das Thema „Gespaltene Gesellschaften – gespaltenes Europa. Worüber und warum wir keine gemeinsame Sprache finden können“ ging.
Der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde MdEP a.D. Martin Kastler erinnerte aus dem in der Bundesgeschäftsstelle der Ackermann-Gemeinde in München aufgebauten Studio in seiner Eröffnung an die Situation vor einem Jahr, als Tschechien wegen Corona die Grenze schloss und das traditionsreiche Symposium abgesagt werden musste. Nun sei es umgekehrt, was er sehr bedauerte. Trotzdem freue er sich über die technisch mögliche virtuelle Tagung „mit hochkarätigen Referenten“. Der Stadt Brünn/Brno, besonders Oberbürgermeisterin Dr. Markéta Vaňková, dankte Kastler für die Unterstützung und die kleinen Präsente für alle Teilnehmenden. Das Tagungsthema „Gespaltenes Europa“ sei angesichts der aktuellen Sachverhalte brandaktuell. Für den früheren Europaparlamentarier hat sich Europa in der jüngsten Vergangenheit „nicht in eine Richtung, sondern in verschiedene Richtungen entwickelt“. Dies zeige sich unter anderem in der unterschiedlichen Darstellung politischer Vorgänge. „Das macht ratlos“, fasste Kastler zusammen und erhoffte sich daher von diesem Dialog einen Impuls nach vorne.
Aus einem Studio in den Prager Weinbergen hieß Dr. Matěj Spurný, der Vorsitzende der Bernard-Bolzano-Gesellschaft, die Zuhörenden willkommen und bedauerte, dass diesmal die informellen Begegnungen sowie der Gottesdienst und der Empfang auf Burg Spielberg, ausfallen. „Doch sind wir froh, dass es gelungen ist, die Konferenz abzuhalten, dies technisch zu ermöglichen“, stimmte er positiv. Auch er dankte der Stadt Brünn für die Mitwirkung. Zum Thema des Symposiums meinte Spurný, dass sich die Veranstaltungsreihe besonders dadurch auszeichne, durch historisches Bewusstsein und langfristige Betrachtung aktuelle Situationen verstehen zu können. „Das ist im letzten Jahr dringender geworden“, mahnte der Vorsitzende. Aktuelle Ereignisse würden zudem verstärkt zur Spaltung beitragen. Aber auch andere Aspekte, wie die Krise der liberalen Demokratie, Positionen der Visegrád-Gruppe, Entwicklungen in der EU, würden dies verstärken, so Spurný.
Per Video sandte die Brünner Oberbürgermeisterin Dr. Merkéta Vaňková ihre Grüße. „Ich glaube, dass unsere Stadt weiterhin ein Bindeglied sein wird“, blickte sie in die Zukunft. Sie verwies aber auch darauf, Stereotypen, Vorurteile und Missverständnisse in allen Gesellschaften abzubauen. Der Dialog könne dazu beitragen, neue Lösungen für die anstehenden Fragen und Probleme zu finden. In deutscher Sprache verlieh sie der Hoffnung Ausdruck, „dass wir uns 2022 wieder treffen“. Der Hauptmann des Südmährischen Kreises Jan Grolich wurde in seinem Grußwort angesichts der weltweiten Pandemie ebenso deutlich. „Wir müssen eine gemeinsame Sprache finden, als bessere Gesellschaft aus der Krise herauskommen.“
Den hohen Stellenwert des Symposiums verdeutlicht auch die Tatsache, dass sogar der tschechische Außenminister Dr. Tomáš Petříček eine Grußbotschaft sandte. „Es ist eine Ehre, einige Worte zur Einführung zu sprechen“, dankte der Minister. Auch in digitaler Vermittlung hätten die Vorträge und Debatten hohe Qualität, für das Tagungsthema gebe es keine einfache Lösung. Petříček nannte Interessen von Nationalstaaten und auch von Volksgruppen sowie die Homogenität Europas in Form der gemeinsamen Werte. Als „Krise ohne Beispiel“ bezeichnete er die Corona-Pandemie, deren Bearbeitung und Lösung auch zu Uneinheitlichkeit geführt habe, oft auch durch – unbeabsichtigte – Fehlinformationen. Daher riet er zu Toleranz, zum Zuhören, Dialog, Verstehen der anderen Position und zu Vertrauen. „Die Kraft des Vertrauens findet man am besten in Krisensituationen“, stellte der Außenminister fest und dankte in diesem Zusammenhang den Nachbarstaaten für die Hilfen bei der Corona-Bewältigung.
„Wir brauchen diesen Dialog, es dürfen keine dauerhaften Gräben entstehen“, mahnte der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tschechien Dr. Christoph Israng in seinem zugeschalteten Grußwort. Er empfahl inständig, „die engen Bande“ und den Austausch weiter zu pflegen und einen „strategischen Dialog“ auf den unterschiedlichen Ebenen zu führen. Nicht nur die Pandemie sei, so der Botschafter, eine Herausforderung, sondern die politische Situation insgesamt, wie dies das Tagungsthema ja andeute. „Eine Konferenz wie diese ist ein wichtiger Beitrag, dass die Distanz nicht dauerhaft bleibt“, fasste Israng zusammen.
Für die österreichische Botschaft in Prag und Botschafterin Dr. Bettina Kirnbauer überbrachte der Gesandte Georg Zehetner die Grüße. „Alle Staaten, Gesellschaften und Nationen stehen vor der gleichen Herausforderung. Mit ihr richtig umzugehen ist der Schlüssel für Erfolg“, trug Zehetner vor. Wichtig seien der Zusammenhalt in der Gesellschaft und die Solidarität zwischen den Staaten. „Der europäische Gedanke und die EU werden gestärkt aus der Krise hervorgehen“, wagte Zehetner einen Blick in die Zukunft.
Markus Bauer
Einführungsvortrag
Ex-EU-Kommissar Figel: „Der Sinn für die Gemeinschaft scheint verloren gegangen zu sein“
Den inhaltlichen Auftakt des diesjährigen Brünner Symposiums gestaltete der frühere EU-Kommissar aus der Slowakei Dr. Ján Figel. Er referierte zum Thema „Was trennt und verbindet Europa? Wie man die Einigkeit Europas wiederherstellen kann“. Dabei spannte er den Bogen von einzelnen historischen Aspekten über aktuelle Herausforderungen bis hin zu den grundlegenden verbindenden Werten.
Zum Beginn seines Vortrags nahm er das Tagungsthema genauer unter die Lupe. Dabei bezog er die Spaltungen auf die „eher kleinen Völker und Nationen mit einer komplizierten Geschichte“. Insgesamt gehe es aber um das gemeinsame Europa. Das konstruktive Ziel müsse sein, „nicht nur eine gemeinsame Sprache, sondern gemeinsame Antworten zu finden“, die zudem nicht oberflächlich sein sollten. Historisch charakterisierte er das 20. Jahrhundert als eines mit „mehr tragischen“ Momenten: zunächst der Nationalsozialismus, dann der internationale Sozialismus, weltweite Genozide, Weltkriege, Bruderkriege usw. Auf der anderen Seite stehe die „moralische Wiedergeburt“ nach 1945, an der vor allem Christdemokraten mitgewirkt hätten. Integration und Zusammenarbeit in Europa und in der westlichen Welt auf der Basis von Würde der menschlichen Persönlichkeit und die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft, einer „Wirtschaft im Dienst des Menschen“, seien Grundlage für positive Entwicklungen und die fortlaufenden EU-Erweiterungen gewesen. „Die Union ist europäischer geworden“, kommentierte Figel die EU-Erweiterung mit den Staaten Mittel- und Südosteuropas bei aktuell 23 Sprachen. Doch nicht eine babylonische Sprachverwirrung sei heute das Problem, vielmehr – so der Referent – der Verlust des Sinns für die Gemeinschaft. Durch die aktuelle Krise, die Corona-Pandemie, werde dies noch verstärkt. Frühere Krisen, wie die Ölkrise in den 1970er Jahren und die Finanzkrise 2010, seien vor allem durch europäische Instrumente bereinigt worden. „Vernünftige Lösungen sollen auch bei der Bewältigung der Pandemie entstehen“, mahnte der frühere EU-Kommissar und riet zur Solidarität – und zum gesunden Menschenverstand mit Bezug zum Menschen. „Dann können wir diese Krise stärker verlassen“.
Als tragende Elemente für Europa nannte er Einheit, Frieden und Gerechtigkeit. Doch die stünden bisweilen mit Entwicklungen durch die Globalisierung in Widerspruch, auch wenn die Zusammenarbeit in manchen Feldern, wie beispielsweise Klima und Bekämpfung des Terrorismus, nötig sei. Figel verwies auf den Kern der Gerechtigkeit, die universellen Menschenrechte. Er sieht Europa als deren natürlichen und selbstverständlichen Anwalt. „Es herrscht nicht Frieden, wo Gerechtigkeit fehlt. Die Politik ist daher Schöpfer und Macher des Friedens“, brachte er es auf den Punkt. Europa habe sich weg von den gemeinsamen Werten hin zu gemeinsamen Zielen bezüglich der Zukunft bewegt - zur Einheit in der Vielfältigkeit, was auch zu extremistischen und populistischen Entwicklungen geführt habe. „Populismus und Halbwahrheiten führen nicht zum Frieden und zum gemeinsamen Wohl. Europa ist kein Melting Pot, Sensibilität und Achtung sind nötig“, verdeutlichte Figel.
Ebenfalls zentral für ihn ist der soziale Charakter des Menschen, der Bezug zu anderen. Und die Identität des Menschen, die sich in Kultur und Bildung ausdrückt – auch in ihrer europäischen Dimension. „Jeder Teil ist für die Gesamtheit wichtig. In Europa haben wir alle 100 bis 200 Kilometer eine andere Region mit spezieller Sprache, Folklore und Kultur. Das ist ein riesiges kulturelles Erbe Europas. In der Kultur ist Europa eine Weltmacht“, so der Vortragende. Eine oft umgekehrte Realität sieht er jedoch bei den Werten – und das trage zur Spaltung bei, auch weil Worte und Taten an Bedeutung verloren haben. Als den ersten und wichtigsten Wert nannte Figel die Würde des Menschen, das Grundprinzip für alle Menschenrechte. Damit hänge die Dimension des Ich–Du–Wir zusammen: das „Ich“ als Ausdruck der Einmaligkeit des Menschen (Authentizität), das „Du“ als Ausdruck der Freiheit des Anderen (Toleranz), das „Wir“ als Ausdruck der Gemeinschaft (soziale Dimension). Basis des Zusammenlebens sei, so der Referent, der Respekt und das Einhalten dieser drei Prinzipien. Das sei auch maßgeblich für europäische Kultur und Politik, wobei diese oft von einer aktiven und kreativen Minderheit gestaltet werde. Als das „Ideal unserer Zeit“ machte Figel die Freiheit aus, wobei wenig über die Pflichten zu hören sei. Ebenso in den Hintergrund gerückt sei in Europa vielfach der Aspekt der Solidarität sowie die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Als Gründe für die Krise der liberalen Demokratie sah er die Überbetonung der Freiheit gegenüber der Wahrheit, die Trennung von der Verantwortung und das Ungleichgewicht von Rechten und Pflichten. „Demokratie ohne Werte ist fahl“, betonte der Vortragende, wichtig sei ein Gleichgewicht, eine Ausgewogenheit der Parameter. Gesunder Menschenverstand, Glaube, Wissenschaft und Religion könnten Motoren sein. Zusammenfassend appellierte Figel für ein „Europa als Wertegemeinschaft“ mit den zentralen Aspekten Offenheit und Zusammenarbeit, Humanität und Menschlichkeit, Würde und Gerechtigkeit sowie Solidarität und Gemeinschaft.
Mit einem exklusiven Konzert der Brünner Philharmonie klang der Abend aus. Im Gespräch mit Dr. Matěj Spurný erläuterte Dramaturg Vítězslav Mikeš eingangs die aktuellen Rahmenbedingungen für das Orchester. Dieses brachte dann für die per Zoom zugeschalteten Teilnehmenden Werke von Rossini, Vivaldi, Mozart, Bach und Mendelssohn-Bartholdy zur Aufführung.
Markus Bauer
Diskussion I
Unterschiedliche Populismen bestimmen die Stimmung in den Visegrád-Staaten
Die Diskussion am Samstagnachmittag des diesjährigen Brünner Symposiums beschäftigte sich mit den Stimmungslagen in den Visegrád-Staaten sowie im Osten Deutschlands sowie im gesamten mitteleuropäischen Raum. Zwei Vorträge und eine Diskussion gingen diesen Themen auf den Grund.
„Die Stimmungslage in den Visegrád-Staaten. Ursachen und Haltungen“ beleuchtete in seinem Vortrag Botschafter a.D. Dr. Marek Prawda, Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Warschau. Einleitend blickte er auf den Spätsommer 1989 zurück, als Flüchtlinge aus der DDR auch nach Warschau kamen, in der Hoffnung, von dort in den anderen deutschen Staat zu gelangen. Dieser Traum, in einer fremden Welt zu leben, sei auch in Polen vielfach präsent gewesen. „Vielleicht ist das Europa, entsteht so Europa“, habe man gehofft. Auch der Blick nach Ungarn und in die Tschechoslowakei habe die Hoffnung genährt, „dass es nach vorne geht. Wir haben damals ein Wir-Gefühl entwickelt. In der Region haben wir damals – auch politisch – die Überzeugung erworben, dass wir das System ändern können, wenn wir alle an einem Strang ziehen“, beschrieb Prawda die damalige Stimmung. Dazu seien aber neben den Politikern auch die Gesellschaften wichtig gewesen – in Form von Runden Tischen. „Das war der europäische Beweis, dass die Menschen durch ihr Engagement Geschichte machen können“, fasste der frühere Botschafter seine Einführung zusammen.
Das Jahr 1989 war für Prawda auch der Ausgangspunkt für die zweite Begründung der Europäischen Gemeinschaft. So sei in Deutschland durch die Wiedervereinigung eine neue Gesellschaft entstanden, und allerorts habe sich die Bevölkerung bemühen müssen, „die europäische Tradition in der Gesamtheit kennenzulernen“. Nicht immer und überall habe das funktioniert, osteuropäische Sichtweisen und Aspekte seien oft unberücksichtigt geblieben, was bisweilen zum Vorwurf einer Ignoranz des Westens und entsprechenden Reaktionen – und Erwiderungen – geführt habe, stellte der Vortragende fest. „Wichtig ist, dass die ostmitteleuropäische Perspektive Teil des europäischen Gedächtnisses wird, dass wir die Brille der Anderen aufsetzen“, gab Prawda zu bedenken. Erfahrungen aus Grenzregionen seien hier sehr hilfreich.
„Im Jahr 1989 haben wir eine Reihe von friedlichen Revolutionen erlebt. Heute wird diese Wende, dieser Umbruch als Auslöser für Revolutionen gesehen, die später und zum Teil jetzt erst stattfinden müssen“, schlug der Referent die Brücke zu heute. So sei in Polen im Jahr 2015 die Bedeutung des Runden Tisches in Frage gestellt und heruntergespielt worden. In Ungarn habe mit Viktor Orbáns Amtsantritt im Jahr 2010 die illiberale Revolution begonnen, „um Defizite zu regeln“, so Prawda. In Deutschland gebe es von der AfD die Forderung nach einer „Wende 2.0“. Allen gemeinsam sei der Gedanke, dass den Menschen zu viel Anpassungsdruck zugemutet worden sei, der Markt alles regeln soll und die Welt zu komplex sei. Doch der Referent hielt entgegen, dass die Transformationszeit nicht für alles verantwortlich gemacht werden könne, sondern auch allgemeine Entwicklungen zu berücksichtigen seien. So etwa Fehler bei der Globalisierung ab 2015, die korrigiert werden mussten, und eine zu lange Untätigkeit der Europäischen Union. Eine „massive Rückkehr zu nationalen Elementen, Mauern und so weiter“ sei die Folge gewesen. Von einer optimistischen Stimmung sei heute nicht mehr viel vorhanden, „ideologische Gräben tun sich auf, Spaltungen innerhalb der Gesellschaften“, schloss Prawda seine Ausführungen.
Anhand von Zahlen und Statistiken analysierte der Bundestagsabgeordnete und frühere Oberbürgermeister von Frankfurt an der Oder Martin Patzelt die „Stimmungslage im Osten Deutschlands. Ursachen und Haltungen“. Er benannte Angleichungen und Unterschiede zwischen Ost und West. Besonders den Männerüberschuss im Osten, der mitunter zur Radikalisierung junger Männer beitrage, und den Bevölkerungsrückgang seit 1991 im Osten mit einer älter werdenden Bevölkerung, vor allem auf dem Land, hob Patzelt hervor. Außerdem wies er auf eine starke Skepsis hinsichtlich der Zukunft und auf einen Anteil von 33 Prozent der 25- bis 29-Jährigen hin, die sich nicht als richtige Deutsche sehen. Die Stimmungslage werde auch durch das subjektive und mediale Erleben geprägt. Dadurch würden die Skepsis und negative Gefühle verstärkt. Hinzu kämen der vielfach fehlende Zusammenhalt und die schlechte Versorgung sowie die Unsicherheit der Arbeitsplätze, Kriminalität oder geöffnete Grenzen, die zu negativer Stimmung beitragen. „Die ersehnte und erkämpfte Freiheit wird geringer geschätzt als die Sicherheit“, brachte es Patzelt auf den Punkt. Zudem würden Vergleiche, z.B. mit Blick auf das Eigentum, mit anderen oder zur Situation in der DDR ein „defizitäres Lebensgefühl“ und gefestigte Meinungen verstärken. Festzustellen sei oft ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen und Unsicherheit angesichts der europäischen Dimension und der Globalisierung – insgesamt ein „diffuses Lebensgefühl“, so der Bundestagsabgeordnete abschließend.
Die Diskussion zum Thema „Suche nach Alternativen zu liberaler Demokratie? Über die Stimmungslage in Mitteleuropa“ bestritten neben Dr. Marek Prawda und dem Bundestagsabgeordneten Martin Patzelt der Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, Dr. Thomas Arnold, und die am Institut für Zeitgeschichte der Wissenschaftsakademie in Prag tätige Historikerin Dr. Veronika Pehe. Die Geschichtsforscherin erläuterte die Unterschiede der Kritik an den Transformationen in den einzelnen Ländern. In Polen sei die Beanstandung „aus dem Zentrum der Macht, aus der Regierungspartei“ gekommen, in Deutschland von einer Oppositionspartei. Ferner handle es sich, so Pehe, um verschiedene Populismen. In Tschechien sie dies ein „technokratischer Populismus, da Premier Babiš „die Politik des Gedächtnisses“ nicht interessiere. „Die Kritik hier ist daher nicht so explizit wie in Polen“. Durch das Handeln in der Pandemie sei in Tschechien das Vertrauen zum Staat und zur Regierung zusammengebrochen, bei benachteiligten Gruppen habe Desintegration des sozialen Zusammenhalts jedoch schon zuvor begonnen. „Es herrscht viel Zorn in der Gesellschaft – trotz makroökonomisch guter Zahlen“, konstatierte Pehe. Sie verwies exemplarisch auf das niedrige Lohnniveau. Den Unterschied zu Polen sieht sie auch in dortigen Protesten, sogar auf dem Land, gegen die Verschärfung der Gesetze zur Abtreibung in antiklerikaler Richtung. Dies weise auf eine Dynamik in der gegenwärtigen polnischen Gesellschaft hin.
„Die Erfahrungen werden verklärt, der Abstand zu 1989/90 wächst“, erklärte Arnold. Das biete den Parteien an den Extremen die Möglichkeit, diese Gegebenheiten für ihre Arbeit zu instrumentalisieren. Zudem werde in Mittel- und Osteuropa viel von der Europäischen Union übernommen. „Welche Narrative erzählen wir künftig?“, fragte der Akademiedirektor und sah die Gefahr, dass parallele Narrative nicht zusammenkommen. „Es braucht immer das Dritte, auf das man sich verständigen kann“, empfahl Arnold und schlug als Narrativ das „Friedensprojekt Europa“ vor, also keine Verwaltungs- oder elitäre Ebene, sondern etwas, das in die Herzen der Leute eingepflanzt werden und diese mitnehmen könnten. Allerdings sei in den neuen Ländern der christliche Aspekt angesichts von rund 80 Prozent nicht religiöser Menschen als narrative Basis problematisch. Als Alternative nannte Arnold Erfahrungen von Unfreiheit, auf deren Basis Menschen die Gesellschaft geprägt und gestaltet hätten. Für den Akademiedirektor sind aber vielfach Narrative, Erfahrungen und Prägungen aus den 40 Jahren DDR noch präsent. Sprachlos mache ihn vor allem der Rechtspopulismus – gerade jetzt in der schwierigen dritten Welle der Pandemie. Auf das Wendejahr 1989/90 werde von Vertretern dieser politischen Richtung Bezug genommen, als damals ein Slogan hieß: „Wir wollen doch nicht mehr bevormundet werden!“ Arnold wies darauf hin, dass Menschen – gerade auch bei neuen Gegebenheiten – eben Fehler machen, weshalb ein anderer Umgang damit nötig sei. „Warum sprechen wir in Europa nicht stärker von Schuld, Vergebung, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit?“, fragte der Direktor und schlug vor, Orte zu schaffen, in denen dies angegangen werden und gelingen könnte. Für ihn ist die liberale Demokratie das beste Konstrukt und habe sich im Alltag bewährt. Jedweder Willkür dürfe kein Platz gewährt werden.
In Polen sieht Dr. Marek Prawda „eine sehr polarisierte Gesellschaft“, in der Vieles mit der Spaltung in Verbindung gebracht werde. Die Corona-Pandemie habe die Regierung in Polen dazu instrumentalisiert, der Europäischen Union Unfähigkeit vorzuwerfen. Es gebe (Schaden-)Freude über unglücklich verlaufene Aktionen auf der Europaebene, den Leuten in den europäischen Institutionen werde Untätigkeit vorgeworfen. „Es hat sich aber im Laufe der Pandemie sehr schnell erwiesen, dass die Gemeinschaft – trotz Fehler und Defizite – unverzichtbar wurde. Die EU wurde zur einzigen Instanz, die helfen konnte – vor allem durch die wirtschaftlichen Hilfen“, merkte der ehemalige Botschafter an. Zudem sei die USA, auf die früher Verlass war, nun ausgefallen und selbst „ein Teil des Problems“ gewesen, so dass die EU Schritt für Schritt die koordinierende Rolle übernommen habe. „Die Pandemie hat in Polen die Fronten verhärtet, aber nun langsam zur Ernüchterung beigetragen“, bilanzierte Prawda.
Ein Unterschied Deutschlands im Gegensatz zu den Nachbarn ist für Patzelt das föderative System, das „eine andere Gemengelage“ nach sich ziehe. Zudem gebe es in Deutschland viele Stimmen für eine europäische Lösung der Corona-Pandemie. „Wenn das klappt, bedeutet dies einen Schub für Europa“, gibt sich Patzelt zuversichtlich.
Markus Bauer
Diskussion II
„Es darf keine Aufweichung der europäischen Grundwerte geben!“
Den Abschluss des diesjährigen Brünner Symposiums bildete am Vorabend des Palmsonntags die Online-Diskussion zum Thema „Nationalstaaten und die EU in der gegenwärtigen Krise. Wie steht es um das gemeinsame Projekt Europa?“ Moderiert vom Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde, MdEP a.D. Martin Kastler, debattierten der Deggendorfer CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Erndl, die Brünner Europaabgeordnete Markéta Gregorová von der Piraten-Partei, der Direktor der Otto von Habsburg Stiftung Botschafter a.D. Gergely Pröhle aus Budapest und der Direktor der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung Dr. Robert Żurek.
„Wie wird es nach Corona in Europa sein?“, lautete Kastlers zentrale Frage an die vier Diskussionsteilnehmer. Doch nicht allein Corona, sondern viele große europäische Fragen, wie Klima, Migration, Ökonomie und Grenzschließungen, müssten angegangen und gelöst werden, so der Moderator in seiner Einleitung.
Von den Grenzschließungen 2020 und 2021 war der Abgeordnete Erndl zwar schockiert, in erster Linie sah er sie aber unter dem medizinischen Gesichtspunkt. „Dieses Mittel soll aber nur gering zum Einsatz kommen. Die vielfältige Vernetzung wurde deutlich. Es bedeutete Härten für Unternehmen, Mitarbeiter, Pendler, Freunde, Familien, Paar. Das darf nur eine Ausnahme sein, wenn eine medizinische Begründung vorliegt“, meinte der CSU-Politiker. Leise Kritik übt er am Einkauf des Impfstoffes. „Das wäre eine große Chance gewesen, die Stärke Europas zu zeigen. Das hat man nun nicht geschafft. Man hätte sich mehr in die Produktionskapazität einbringen können. Statt der Stärke hat man nun die Schwäche Europas in den Köpfen. Wichtig ist nun, rechtzeitig für Impfstoff zu sorgen“. Darüber hinaus gelte es, in vielen Fragen nachzudenken, so Erndl. Er machte darauf aufmerksam, dass die sozialen Medien durch die Darstellung mancher Themen Spaltungen fördern und verstärken. Auf europäischer Ebene sieht er historisch unterschiedliche Ausgangslagen mit verschiedenen Entwicklungen und Prägungen. Diese gelte es aufzunehmen und zu respektieren. „Aber es darf keine Aufweichung der europäischen Grundwerte geben. Unter diesen komplexen Gegebenheiten ist Europa wieder stärker zusammenzuführen. Die Zukunft funktioniert nur, wenn wir noch stärker zusammenarbeiten und zusammenhalten, die Spaltung in der Gesellschaft zurückführen und dann auf der europäischen Ebene wieder zusammenkommen“, lautete Erdls Rat und Perspektive.
Die unterschiedlichen Gesundheitssysteme nannte die Europaabgeordnete Gregorová als weiteren Grund für die Grenzschließungen und -kontrollen. Hoffnung setzt sie auf spezielle Impfpässe, die dann für eine Verbesserung der Situation sorgen könnten. Zur Corona-Pandemie in ihrem Heimatland meinte sie, dass die tschechische Politik „zu diesen Zahlen geführt“ habe und kein Experte mit Ministerpräsident Andrej Babiš zusammenarbeiten wolle. Daher sei die europäische Ebene nun der „Ort der Hoffnung“. Die EU-Parlamentarierin verwies auf die Diskussionen über die Zukunft Europas, begleitet auch von Bürgern, NGOs, Regierungen. Doch Tschechien sei gegen Änderungen in der Gründungsurkunde, für ihre Piraten-Partei hingegen seien Modifikationen nötig. Sie plädiert für eine direkte Wahl der EU-Kommission durch das EU-Parlaments, das dann eine größere Macht habe und das auch Gesetzesinitiativen einbringen sollte. „Eine stärkere Demokratisierung der EU-Kommission wäre nötig“, forderte Gregorová weiter und äußerte Bedenken hinsichtlich der Auswahl und Kompetenz mancher EU-Kommissare. Als ein weiteres Problem ihrer Europaarbeit sieht sie, dass die Tschechen keine Unterstützung von zuhause bekommen – etwa bei der Besetzung von Posten.
Auf den paneuropäischen Prozess der letzten etwa 100 Jahre machte der ehemalige ungarische Botschafter in Berlin Pröhle aufmerksam. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union sei ein ausgeklügeltes Gleichgewicht nationaler und übernationaler Interessen erreicht worden. Er wehrte sich gegen den alleinigen Blick auf eine föderale oder nationalstaatliche Lösung. „Es ist ein sehr gut aufgebautes System“, meinte Pröhle und brachte den Begriff der Subsidiarität ins Spiel. Zu großer Enttäuschung hinsichtlich der europäischen Kooperation habe das Impf-Desaster geführt, zumal die Verantwortlichen für die Fehler nicht genannt wurden. „Das ist ein großer Rückschlag für die europäische Idee“, bedauerte der frühere Botschafter, auch weil die rechten und linken Parteien dadurch Aufwind bekommen. Die Visegrád-Komponente sah Pröhle als weiteres sehr wichtiges Feld der Zusammenarbeit. Und er äußerte sich zur ungarischen Europapolitik. „Die ungarische Regierung ist nicht euroskeptisch. Zwar gibt es immer wieder Stimmungsmache gegen die Administration in Brüssel, aber auch Entscheidungen, die die ungarische Regierung mitgetragen hat“. Nicht zu vergessen sei in diesem Kontext das Thema der ungarischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2011 zum Thema „Stärkeres Europa“. Diskussionen gebe es vor allem um die Struktur des europäischen Gebildes sowie um die künftige Rolle und Zuständigkeiten der Nationalstaaten. Gespaltenheit sieht Pröhle auch in Deutschland, selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Im Gegensatz zu anderen Staaten schütze aber hier das föderale System vor einer Verschärfung.
Auch für Direktor Żurek ist die Grenzschließung ein harter Rückschlag, „besonders für alle, die für die Verständigung arbeiten. Online ersetzt nicht die wahre Begegnung unter jungen Menschen“, klagt Żurek. In seinem Heimatland Polen sieht er politisch zwei Lager: die Regierung und die linksliberale Opposition. Dazu käme die zivilgesellschaftliche Mehrheit. Die Regierung sei gekennzeichnet durch EU-Skepsis, isolatorische Haltung und Streit mit Brüssel und anderen EU-Mitgliedsländern. „Sie nutzt die Krise aus, um eigene Positionen zu stärken“, erklärte der Direktor. Dagegen würden die Opposition und die Mehrheit der Zivilgesellschaft bedauern, „dass Polen in den letzten Jahren wenig Konstruktives zu Europa beibringt. Und sie sind auch stark mit sich selbst beschäftigt. Leider wird aus Polen wohl kein konstruktiver Beitrag zu europäischen Debatten kommen“, analysierte Żurek. Er nannte schließlich noch ein Dilemma: „Polen ist weiterhin eines der europafreundlichsten Völker – aber trotzdem wird europaskeptisch gewählt.“ Für Żurek ist die Polarisierung der Gesellschaft „in vielen Ländern eine zunehmende Problematik für die Demokratie und die westliche Welt.“ In Polen sei eine Eskalation, ja „ein kalter Bürgerkrieg“ festzustellen, ein Dialog sei kaum noch möglich. Diese Angelegenheit werde, so der Direktor, wohl eine der zentralen Herausforderungen für Polen und Europa.
Markus Bauer
Essaywettbewerb
10. Europäischer Essaywettbewerb fragt nach dem gegenseitigen Verstehen in einem gespaltenen Europa
Zum Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ gehört seit vielen Jahren der Europäische Essaywettbewerb für Studierende. Beim Symposium 2020 sollten eigentlich die Preisträger für den im Dezember 2019 ausgeschriebenen zehnten Wettstreit ausgezeichnet werden, der das Thema „Zwei Europas? Verstehen wir uns (noch)?“ als Aufgabe gestellt hatte. Die ersten drei Preisträger wurden nun im Rahmen des virtuellen Symposiums 2021 gewürdigt.
Es wäre ein „kleines Jubiläum“ gewesen, bedauerte MdEP a.D. Martin Kastler. Der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde lobt jährlich mit Dr. Matěj Spurný, dem Vorsitzenden der Bernard Bolzano Gesellschaft, diesen Wettbewerb aus. Die Texte wurden natürlich aufgehoben, „es war zum Teil spannend, sie ein Jahr später zu lesen – mit dem Wissen um die Corona-Fakten“, erläuterte Kastler.
Den mit 200 Euro dotierten dritten Platz erreichte die 26-jährige Anna Gašparová, die aus Bratislava stammt und ein Promotionsstudium der Germanistik an der Masaryk-Universität in Brünn absolviert. Ihr Essay betitelte sie mit „Die Unbelehrbaren“, sie beschreibt darin vor allem die in der Slowakei agierende rechtsfaschistische Partei, deren Entwicklung und die Hintergründe der zurückliegenden 30 Jahre. Hatte sie ihren Text noch im Kontext der damaligen Wahlen in der Slowakei geschrieben, so sieht Gašparová aktuell, dass diese Gruppe eine „Bedrohung für die normalen Menschen“ sei und die Menschen durch diese beeinflusst werden könnten. Andererseits säßen viele Leute dieser Partei wegen diverser Aktionen in Gefängnissen, „wir können was dagegen machen“, betonte die Autorin mit dem Verweis auf zivilgesellschaftliche Gruppen.
„widersprechen / wieder sprechen: Dialog über den Spalt, der Europa durchzieht“ lautete der Titel des Zweitplatzierten (Preisgeld: 300 Euro) Stephan Gräfe (29), Student (Philosophie, Künste, Medien) der Stiftung Universität Hildesheim. Die in den letzten 30 Jahren in Europa entstandenen Gräben sind für den 29-Jährigen nicht nur geografisch, sondern auch an verschiedenen Themen und Entwicklungen, wie Armut/Reichtum und Migration, auszumachen. Dabei seien zudem Aspekte wie das Alter, mit dem eigenen Erleben des Totalitarismus, oder der Blick über Europa hinaus zur Einschätzung sinnvoll.
Sieger des Essaywettbewerbs 2020/21 wurde der Student der Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilian-Universität München Sebastian Geigenberger (20). 500 Euro erhielt er für seinen Beitrag „Das Phantom im Kopf. Trennlinien innerhalb der Europäischen Union“. Er beleuchtet darin die Merkmale der liberalen bzw. illiberalen Demokratie, blickte af die Visegrád-Staaten und konstatierte ein Minderwertigkeitsgefühl und verdeutlicht, dass die Psyche eine große Rolle spielt. Auch die Zäsur durch die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 arbeitet der Autor heraus.
Leider konnte Martin Kastler nur mit Anna Gašparová live sprechen und ihr gratulieren. Die zwei weiteren Preisträger waren aus technischen Gründen offline und nicht beim Symposium anwesend. Die drei Essays sind auf der Homepage der Ackermann-Gemeinde (www.ackermann-gemeinde.de) abrufbar.
Markus Bauer